Donnerstag, 10. Oktober 2013

"In "Finsterworld" ist sehr viel möglich" - Interview mit Frauke Finsterwalder, Regisseurin von "Finsterworld" (2013)


Udo Rotenberg: In einem Interview zu Ihrem Film „Finsterworld“ las ich, dass Sie nach einem längeren Aufenthalt im Ausland (unter anderem in Afrika) Deutschland anders empfunden haben. Um in filmtechnischer Hinsicht zu fragen: entstand so ein differenzierterer Blick, durchschaute man die Dinge dadurch besser?

Frauke Finsterwalder:  Ich denke, Jeder, der längere Zeit außerhalb Deutschlands lebt, kennt diesen Blick. Da ich in Deutschland Freunde und Verwandte habe, kam ich regelmäßig hierher und begann die Dinge, die ich bisher als Normalität empfand, zu hinterfragen – etwas, was man sonst kaum macht, da man sonst wahnsinnig werden würde. Ich wollte in meinem Film aber weder verurteilen, noch verallgemeinern, sondern einfach nur beobachten.

Udo Rotenberg: Im Presseheft fand ich auch den Satz über Ihren Film, dass dieser „ganz sicher kein Realismus“ wäre. Ich empfand ihn genau umgekehrt als besonders realistisch, mehr im Sinn eines Michelangelo Antonioni-Films, den sie in den Worten der Dokumentarfilmerin Franziska Feldenhoven (Sandra Hüller) im Film erwähnen. Sie bezeichnet dessen Film „L’eclisse“ (Liebe 1962) als ihr Vorbild, interpretiert ihn gegenüber ihrem Lebensgefährten Tom (Ronald Zehrfeld) aber falsch. Sie meint resignierend, die beiden Protagonisten kämen nicht zusammen, weil sie sich nicht liebten. Tatsächlich haben sie Gefühle füreinander, sind aber nicht in der Lage, sie zu leben - typisch für Antonioni, dessen Filme sich mit der zunehmenden sozialen Entfremdung und einem wachsenden Hedonismus beschäftigten. Auf die Frage, warum er (seit „L’avventura“ (Die mit der Liebe spielen“ (1960)) seine Filme unter schönen und wohlhabenden Menschen spielen lässt, antwortete er sinngemäß, dass er damit den Blick, unbelastet von den alltäglichen Problemen, auf das Wesentliche konzentrieren wollte – daran hat mich Ihr Film erinnert.

Frauke Finsterwalder: In meinem Film sieht man natürlich unterschiedliche realistische Milieus. Auch das aneinander vorbei reden in den Dialogen ist sehr realistisch. Die Formulierung „kein Realismus“ bezieht sich eher auf die Bildsprache und die Hintergrundsituationen, wie etwa autofreie Straßen. Was beim Drehen unendlich schwer herzustellen war, da die Auto-Lobby in Deutschland sehr stark ist und man einfach nur sehr schwierig Straßen gesperrt bekommt. Oder menschenleere Orte: eine Tankstelle, ohne andere Kunden, oder die KZ-Gedenkstätte, ohne andere Besucher. „Finsterworld“ sollte einen Ort darstellen, an dem in verdichteter Form sehr viel möglich ist.

Deutschland hat, was besonders auffällt, wenn man von außerhalb darauf sieht, sehr unterschiedliche Facetten. Der katholische Süden, der protestantische Norden, Ost, West und vieles mehr – diese Unterschiede sollten im Film nicht zu sehen sein, sondern die Gemeinsamkeiten erfasst werden, ohne sie einer Region zuzuordnen. Auch die Darsteller wurden entsprechend ausgewählt, unter denen sich mit Jakub Gierszal (als Maximilian Sandberg) ein polnischer Schauspieler, mit Carla Juri eine Italo-Schweizerin (als Natalie) und Johannes Krisch (als Einsiedler) ein Ur-Österreicher befinden – das war eine bewusst hergestellte Mischung.

Udo Rotenberg: Es ging entsprechend um eine Zuspitzung der Realität? – Anders ausgedrückt, beschäftigt sich der Film genau mit den Problemfeldern, die dem deutschen Film gerne nachgesagt werden – klassische Stereotypen wie das saturierte, reiche Ehepaar Sandberg (gespielt von Corinna Harfouch und Bernhard Schütz), dass sich nur mit sich selbst beschäftigt, und sowohl die Beziehung zu ihrem Sohn Maximilian, als auch zu der im Altersheim lebenden Mutter des Mannes (Margit Carstensen) vernachlässigt, oder der Lehrer (Christoph Bach), der versucht in dem ehemaligen KZ seinen Schülern die deutsche Geschichte näher zu bringen, worauf diese nur gelangweilt reagieren – ohne den Gestus eines sozialkritischen Films anzunehmen, sondern sehr unterhaltend zu bleiben. War das so von Ihnen beabsichtigt?

Frauke Finsterwalder: „Finsterworld“ ist der Versuch, einen Film über Deutschland zu drehen, der Spaß macht, gleichzeitig aber auch irrsinnig schrecklich ist. Ich bin froh, dass es aufgegangen ist. In Deutschland lachen die Zuschauer erstaunlich viel über den Film, besonders über die Bemerkung, dass die Fahne so hässlich ist. Das denken offensichtlich Viele, ohne es zu sagen. Im Ausland empfand man dagegen die Tragik stärker, in Argentinien wurde sogar geweint.

Udo Rotenberg: Sie riskieren es, am Ende nicht alles wieder gerade zu rücken, etwa in der Episode um den Lehrer. Quasi ein Verstoß gegen die Regeln…

Frauke Finsterwalder: Der in verschiedenen Ländern unterschiedlich wahrgenommen wird. In Kanada reagierte man geradezu fassungslos darüber, dass das Böse gewinnen darf, gleichzeitig empfand man es auch als gut, weil es für gegen die amerikanischen Sehgewohnheiten ist. Argentinien ist dagegen noch stark von der nicht lange zurückliegenden Zeit der Diktatur geprägt. Viele Täter wurden nie zur Rechenschaft gezogen. Die Argentinier fanden den Film deshalb sehr echt.

Udo Rotenberg: Gab es während der Filmentwicklung Episoden, die wieder herausgenommen wurden oder später dazu kamen? – „Finsterworld“ deckt ja viele Bereiche ab.

Frauke Finsterwalder: Der Film war von Beginn an so konzipiert. Hinzugefügt wurde nichts. Nur eine schon abgedrehte Episode wurde wieder heraus geschnitten, die aber keine entscheidende Funktion hatte.

Frage: Wollten Sie mit Ihrem Film auch direkt Kritik üben?

Frauke Finsterwalder: „Finsterworld“ beschäftigt sich natürlich auch mit dem neuen Selbstbild, das sich in Deutschland immer mehr verbreitet – das es hier gerecht zugeht und Deutschland die „bessere“ Demokratie hat. Vom Ausland aus betrachtet, stellt sich diese Meinung ganz anders dar. Gleichzeitig mache ich mich auch lustig darüber, dass ich selbst so deutsch bin und mich wieder so intensiv damit auseinandersetze, weshalb es eine Befreiung war, den Film „Finsterworld“ zu nennen (ein Titel, der ganz früh feststand). Es entstand eine eigene Welt, in die ich alles, was aus meiner Sicht hinein gehört, hinein stecken konnte.

Udo Rotenberg:  Diesen Zwiespalt im Deutschlandbild empfindet man besonders am Ende des Films, das auch positive Aspekte vermittelt – etwa wenn die alte Frau vor dem Haus des Fußpflegers steht. Der Moment, in dem das Ehepaar die Mutter im Altersheim nicht mehr antrifft, ist es offen, ob sie noch lebt – sollte diese Spannung bewusst entstehen?

Frauke Finsterwalder:  Die Figur des Fußpflegers Claude (Michael Maertens) sollte den Betrachter auch mit der Frage konfrontieren, was normal ist und was nicht. Man kann sein Verhalten natürlich ekelig finden, gleichzeitig ist er der sozialste Mensch im Film.

Udo Rotenberg: Dem gegenüber entsteht die Liebe Natalies (Carla Juri) zu Maximilan (Jakub Gierszal) unter verlogenen Voraussetzungen…

Frauke Finsterwalder: Natalie wird von Maximilian gebrochen - für mich nach wie vor der Moment des Films, den ich kaum ertragen kann.

Udo Rotenberg: Zum Abschluss hätte ich gerne noch von Ihnen gewusst, was sie nach dieser intensiven Beschäftigung mit Deutschland als nächstes planen.

Frauke Finsterwalder: Auf jeden Fall wieder ein Spielfilm, aber kein Episodenfilm und nicht über Deutschland. Sehr gerne wieder mit denselben Darstellern – ich fände es zudem interessant, einzelne Figuren weiter zu betrachten. Aber am liebsten würde ich einen richtigen Science-Fiction-Film drehen.

Interview mit Frauke Finsterwalder in Berlin am 17.09.2013, anlässlich ihres Films „Finsterworld“ (Kinostart 17.10.2013)                                              Fragen und Aufzeichnung Udo Rotenberg, Dresden

Mittwoch, 2. Oktober 2013

Die andere Heimat (2013) Edgar Reitz

Inhalt: Hunsrück 1842 - zunehmend sind die Bewohner der ländlichen Region nicht mehr bereit, die tägliche Mühsal und die Repressalien ihrer Herrscher zu ertragen, weshalb sie zu Hunderttausenden aus der preußischen Rheinprovinz auswandern. Als das gelobte Land gilt für sie Brasilien, von dem auch Jakob Simon (Jan Dieter Schneider) träumt, der jedes Buch, das er darüber finden kann, liest und daraus die Sprache der Indios lernt. Sein Vater Johann (Rüdiger Kriese), Dorfschmied und Bauer, hält nichts von den Flausen seines Sohnes, die ihn aus seiner Sicht nur von der Arbeit abhalten, die für den kärglichen Broterwerb notwendig ist.

Als sein älterer Bruder Gustav (Maximilian Scheidt) vom Wehrdienst zurückkehrt, wird Jakob noch mehr damit konfrontiert, dass ihm der Sinn für das Praktische fehlt - nur seine Mutter Margarethe (Marita Breuer) verteidigt ihren Sohn. Und Jettchen (Antonia Bill), dass hübscheste Mädchen aus dem Nachbarort, ist fasziniert von Jakobs Wissen und der Begeisterung, mit der er über Brasilien erzählt. Doch bei einer Tanzveranstaltung muss der schüchterne Jakob mit ansehen, wie sein schneidigerer Bruder sich an Jettchen heranmacht, weshalb er aus Frust in die aufwieglerischen Rufe gegen den Baron einstimmt und im Gefängnis landet...


Ein knapp vierstündiger Film über eine Familie, die im Jahr 1842 ihr Dasein in einem kleinen Ort im Hunsrück fristet - das klingt nach einem zähen und wenig unterhaltsamen Kinoabend. Auch die Figur des Protagonisten - ein junger, literarisch Interessierter Mann inmitten einer bäuerlichen, nur an der Bewältigung der täglichen Arbeit interessierten Umgebung - aus dessen Blickwinkel heraus die Geschichte erzählt wird, ist kein unbedingt origineller Ansatz. Dessen Schicksal lässt sich leicht vorhersagen - vom strengen, durch den ständigen Überlebenskampf verbitterten Vater (Rüdiger Kriese) drangsaliert und vom älteren, tüchtigeren Bruder (Maximilian Scheidt) in den Schatten gestellt, der ihm auch Jettchen (Antonia Bill), das hübscheste Mädchen der Umgebung, wegnimmt, sucht er Ablenkung in seinen Büchern und träumt von fernen Gestaden. Einzig die von der täglichen Mühsal zunehmend gezeichnete Mutter (Marita Breuer) hat Verständnis für ihren gebildeten und sensiblen Jüngsten.

Die äußeren Umstände, unter denen die Dreharbeiten stattfanden, scheinen dieses Bild einer am neorealistischen Stil orientierten Dokumentation eines armseligen Lebens noch zu verdichten, das in keinem größeren Gegensatz zur aufgeregten, bunten und ständig nach Abwechslung schreienden Gegenwart stehen könnte. Neben einer bis ins Detail nachempfundenen Authentizität - die Darsteller sprechen im nicht immer leicht verständlichen Dialekt der Region - entschieden sich Regisseur Edgar Reitz und sein Kameramann Gernot Roll, den Film in Schwarz-Weiß zu drehen, nutzten die Digitaltechnik aber für selten eingestreute farbig gezeigte Details - nicht als Gimmick, sondern in einer die Realität noch unterstützenden Wirkung. Die Entscheidung gegen farbige Bilder war konsequent, denn sie hätten der dünn besiedelten Landschaft automatisch einen pittoresken Anschein verliehen, der nicht zu der Lebenssituation der Menschen gepasst hätte, die zunehmend jedes Vertrauen in ihre Zukunft verloren haben, weshalb Hunderttausende von ihnen beschließen ihre Heimat zu verlassen, um nach Brasilien auszuwandern.

Brasilien - damit fällt schon früh im Film das entscheidende Stichwort, dass dem Film eine andere Richtung gibt, als die äußeren Parameter erwarten lassen. Brasilien steht hier nicht nur für eine weit entfernt scheinende Sehnsucht - Jakob Simon (Jan Dieter Schneider) liest alles, was er über das Land erfahren kann und lernt aus den Büchern die Sprache der Indios - sondern wird für viele Menschen zu einer realen Alternative, obwohl es nur wenige, zudem idealisierte Informationen über die Lebenssituation dort gibt. Doch das spielt letztlich keine Rolle, angesichts einer Heimat, die ihre Bewohner im Stich lässt. Es wird deutlich, warum Reitz die Zeit benötigt, den Betrachter vollends in eine deutsche Realität eintauchen zu lassen, die erst 170 Jahre zurückliegt und deren Auswirkungen heute fast vollständig in Vergessenheit geraten sind.

Dank des überzeugenden Spiels der Darsteller, dem zeitgemäßen Tempo und dem detailliert gezeigten, überschaubaren Umfeld entfaltet sich ein Leben vor dem Betrachter, dass sich den typischen Klischees entzieht, denn keine romantischen Verwicklungen oder überbordenden Ideen bestimmen das Geschehen, sondern die Jahreszeiten, die tägliche Arbeit und der allgegenwärtige Tod - voraussehbar und planbar war kaum etwas. Reitz gelingt es ein Gleichgewicht zwischen der Liebe zur Heimat, den Momenten des Glücks in der Gemeinschaft und der täglichen Mühsal darzustellen, dass zunehmend von willkürlichen Gesetzgebungen, langen Wintern und mangelnder Arbeit aus dem Gleichgewicht gebracht wird, weshalb sich stark verwurzelte Menschen dazu entschieden, ihre Heimat zu verlassen - Mitte des vorletzten Jahrhunderts war Deutschland (hier am Beispiel der preußischen Rheinprovinz) ein Auswanderungsland.

Die Länge der Laufzeit ist notwendig - der Betrachter sollte den Film möglichst ohne Unterbrechung sehen - um das damalige Lebensgefühl nachempfinden zu können und einen Begriff von "Heimat" jenseits reaktionärer Schönfärberei zu bekommen, die zu verlassen einen schweren Verlust für Jeden bedeutete - für die Emigranten, wie für die Zurückgebliebenen – eine Entscheidung, die als Folge lang anhaltender Hoffnungslosigkeit, gepaart mit einer illusionären Erwartungshaltung an ein gelobtes Land, getroffen wurde. Edgar Reitz verfolgte mit seinem Film zwei Ziele - einerseits wollte er eine nicht lang zurückliegende Vergangenheit wieder in Erinnerung rufen, andererseits damit auch ein Verstehen für die Situation der heutigen Emigranten nach Deutschland erzeugen. Diese unterschwellige Intention spielt sicherlich ein Rolle, aber die entscheidende Wirkung des Films liegt darin, dass ihm das gelingt, wofür Kino steht – das Eintauchen in eine Welt, die nur im ersten Moment fremdartig wirkt.

"Die andere Heimat" Deutschland 2013Regie: Edgar Reitz, Drehbuch: Edgar Reitz, Gerd Heidenreich, Darsteller : Jan Dieter Schneider, Antonia Bill, Maximilian Scheidt, Marita Breuer, Rüdiger KrieseLaufzeit : 230 Minuten