Mittwoch, 6. November 2013

Escape Plan (2013) Mikael Håfström

Wo Höhen, da auch Tiefen - eine persönliche Abrechnung:

Inhalt: Breslin (Sylvester Stallone) gerät im Knast in einen Streit, der ihn direkt in eine Einzelzelle befördert. Gut überwacht und eingeschottet wirkt er sicher eingesperrt, doch er findet eine Lücke im System. Als es vor dem Gefängnis zu einer Explosion kommt, nutzt er die Verwirrung um auszubrechen. Wenig später kann ihn die Polizei zwar wieder stellen, aber Breslin erhält staatliche Unterstützung, denn es handelt sich bei ihm um einen Experten, der Sicherheitsysteme von Gefängnissen überprüft, um sie zu verbessern. Dafür lässt er sich als scheinbar Verurteilter einsperren, um unter realistischen Bedingungen auszubrechen, was ihm ausnahmslos gelingt.

Sein Team, das ihn von Außen unterstützt, reagiert allerdings skeptisch auf einen neuen Auftrag, bei dem er ein Hochsicherheitsgefängnis überprüfen soll. Nur Lester Clark (Vincent D'Onofrio) setzt sich für den sehr gut bezahlten Job ein, weshalb sie sich widerwillig darauf einlassen. Ihr Misstrauen scheint sich zu bestätigen, als Breslin mitten in New Orleans entführt wird und sich jede Spur von ihm verliert. Er erwacht in einer gläsernen Einzelzelle, überwacht von schwer bewaffneten, mit Schutzmasken versehenen Männern, die ihre Gefangenen sadistisch quälen. Schnell wird ihm klar, dass der Direktor (Jim Caviezel) nicht nur genau weiß, wer er ist, sondern keineswegs vorhat, ihn wieder laufen zu lassen. Einzig ein Mitgefangener (Arnold Schwarzenegger) erzeugt etwas Hoffnung, aber kann er ihm vertrauen?


Wofür der hochbegabte Ingenieur in "Prison break" eine komplette Season benötigte und was Burt Lancaster in "Der Gefangene von Alcatraz" nie gelang, erledigt Sly Stallone in wenigen Tagen. Erst lässt er sich als Langzeit-Knacki einbuchten, dann teilt er kräftig aus, um in die Einzelzelle verfrachtet zu werden, aus der er mit der Zuhilfenahme eines feuchten Papierkügelchens entkommt - darauf wäre selbst ein McGyver eifersüchtig gewesen.  Doch damit noch nicht genug - nachdem er sich dem Großeinsatz der Polizei freiwillig ergeben hat, erscheint ein staatlicher Mitarbeiter, der dem Gefängnisdirektor zu verstehen gibt, dass Sly (hier unter dem Tarnnamen "Ray Breslin" tätig, der nach Romanheftchen aus den 50er Jahren klingt) gar kein Verbrecher ist, sondern im Auftrag handelte, um die Sicherheit der us-amerikanischen Gefängnisse zu untersuchen.

Eine sinnvolle Beschäftigung angesichts der Tatsache, dass 20% aller Strafgefangenen weltweit in den USA einsitzen (bei 5% Anteil an der Weltbevölkerung), aber natürlich macht sich Sly damit nicht nur Freunde, wenn er nach seinen Aktionen den Direktoren erklären muss, dass sich ein Wachhabender im falschen Moment am Kinn kratzte oder in der Einzelzelle in der rechten hinteren Ecke ein Schräubchen lose war, weshalb es einem Spaziergang glich, daraus abzuhauen. Wer lässt sich schon gerne solch grobe Sicherheitslücken vorhalten? - Dem Genre-vertrauten Beobachter (im Prinzip also Jeder, der schon einmal im Kino war) ist daraufhin sofort klar, dass mit Sly's nächstem Auftrag irgendetwas nicht stimmen kann, da der Meister selbst schon misstraurisch reagiert, seine Crew auch, nur der sinistre Vincent D'Onofrio (hier als Lester Clark unterwegs) nicht, der mit viel Kohle argumentiert.

Sly, ganz scharf darauf, möglichst schnell wieder hinter schwedischen Gardinen sitzen zu dürfen, begibt sich daraufhin nach New Orleans, woraus kein langer Aufenthalt wird, da man ihn von der Straße weg entführt und per Flugzeug an einen unbekannten Ort transportiert - er bekommt nur mit, dass ein anderer Gefangener gequält und ermordet wird. Auch die sonstigen Neu-Erfahrungen entwickeln sich eher unerfreulich. Er wacht in einer gläsernen Zelle innerhalb eines Hightech-Gefängnisses auf, wo die Wachen Masken tragen, damit sie sich nicht am Kinn kratzen können. Denn der Gefängnisdirektor (Jim Caviezel) ist nicht nur ein Sadist, der in dem einschlägig bekannten Winnie Jones gleich zwei verlängerte Arme besitzt, sondern hat Sly's Fibel für den sicheren Gefängnisbau in seiner Bibliothek stehen - und erweist sich unangenehmerweise als strebsamer Schüler.

Klingt spannend? - Sicher, so lange man noch an den Weihnachtsmann glaubt, denn wo Sly drauf steht, ist auch Sly drin, was Stallone nicht nur mit seinem unnachahmlichen Gang beweist, sondern mit der Fähigkeit, auch Strebern klar machen zu können, dass Fleiß allein nicht ausreicht. Irgendein loses Schräubchen findet der Mann immer. Zudem hat sich noch ein alter Kumpel in den Sicherheitsknast (der ein wenig auf Guantanamo macht) verirrt, mit dem die Sause erst richtig losgeht. Arnie, unter dem Pseudonym Emil Rottmayer in Aktion, der mit englischem Akzent ausgesprochen, herrlich verwegen klingt, beweist an der Seite von Sly nicht zum ersten Mal, dass Großväter mit dicken Muskeln von nichts aufzuhalten sind - schon gar nicht von naseweisen Schlaubergern, die aus purem Vergnügen ein Millionen schweres Gefängnis betreiben.

Gut, die letzte Bemerkung ist nicht ganz korrekt. Natürlich verfolgen der Direktor und die über ihm stehende, nicht näher genannte Behörde wichtige Ziele, weshalb sie Rottmayer foltern, um an weltbewegende Informationen zu gelangen, aber von Bedeutung für die Story sind diese Hintergründe genauso wenig, wie die sonstigen inneren Zusammenhänge bis zum konstruierten "überraschenden" Ende. Das ließe sich leicht verschmerzen, wenn Stallone und Schwarzenegger die hier geschaffene Welt eines Super-Gefängnisses mit Super-Wachdienst und Super-Direktor auch nur einen Moment selbst ernst nähmen. Da wird zwar der eine oder andere Cliff-Hanger aufgeboten, aber immer wenn sich die Lage mal ein wenig zuspitzt, taucht gleich die Lösung auf - im Notfall gibt es einen Arzt des Vertrauens, der sich auch nur versehentlich in den Sadisten-Verein verirrte, oder eine schwerbewaffnete Armee trifft das sprichwörtliche Scheunentor aus ein paar Metern Entfernung nicht.

Außer mit Ironie kann man sich einem kalkulierten, jeden Moment vorhersehbaren Produkt wie "Escape Plan" nicht nähern, dass 80er Jahre Action-Kino verspricht, aber nur eine glattgebügelte Kopie davon abliefert - für ein an das heutige Hightech-Kino gewöhntes Publikum. Das einzige, was bei der Verdauung einer solchen Chose noch hilft, ist Liebe - zu Arnie, Sly und den langen gemeinsamen Zeiten, die sich in ihren Gesichtern spiegeln. Damit lassen sich dem Film noch ein paar vertraute Momente abringen, werden alte Erinnerungen geweckt, aber allzu viele Filme dieser Art können Gefühle auch erkalten lassen. 

"Escape Plan" USA 2013Regie: Mikael Hafström, Drehbuch: Miles Chapman, Jason Keller, Edgar Reitz, Gerd Heidenreich, Darsteller : Silvester Stallone, Arnold Schwarzenegger, 50 Cent, Jim Carviezel, Vinnie Jones, Sam Neill, Vincent D'Onofrio, Laufzeit: 115 Minuten 


Donnerstag, 10. Oktober 2013

"In "Finsterworld" ist sehr viel möglich" - Interview mit Frauke Finsterwalder, Regisseurin von "Finsterworld" (2013)


Udo Rotenberg: In einem Interview zu Ihrem Film „Finsterworld“ las ich, dass Sie nach einem längeren Aufenthalt im Ausland (unter anderem in Afrika) Deutschland anders empfunden haben. Um in filmtechnischer Hinsicht zu fragen: entstand so ein differenzierterer Blick, durchschaute man die Dinge dadurch besser?

Frauke Finsterwalder:  Ich denke, Jeder, der längere Zeit außerhalb Deutschlands lebt, kennt diesen Blick. Da ich in Deutschland Freunde und Verwandte habe, kam ich regelmäßig hierher und begann die Dinge, die ich bisher als Normalität empfand, zu hinterfragen – etwas, was man sonst kaum macht, da man sonst wahnsinnig werden würde. Ich wollte in meinem Film aber weder verurteilen, noch verallgemeinern, sondern einfach nur beobachten.

Udo Rotenberg: Im Presseheft fand ich auch den Satz über Ihren Film, dass dieser „ganz sicher kein Realismus“ wäre. Ich empfand ihn genau umgekehrt als besonders realistisch, mehr im Sinn eines Michelangelo Antonioni-Films, den sie in den Worten der Dokumentarfilmerin Franziska Feldenhoven (Sandra Hüller) im Film erwähnen. Sie bezeichnet dessen Film „L’eclisse“ (Liebe 1962) als ihr Vorbild, interpretiert ihn gegenüber ihrem Lebensgefährten Tom (Ronald Zehrfeld) aber falsch. Sie meint resignierend, die beiden Protagonisten kämen nicht zusammen, weil sie sich nicht liebten. Tatsächlich haben sie Gefühle füreinander, sind aber nicht in der Lage, sie zu leben - typisch für Antonioni, dessen Filme sich mit der zunehmenden sozialen Entfremdung und einem wachsenden Hedonismus beschäftigten. Auf die Frage, warum er (seit „L’avventura“ (Die mit der Liebe spielen“ (1960)) seine Filme unter schönen und wohlhabenden Menschen spielen lässt, antwortete er sinngemäß, dass er damit den Blick, unbelastet von den alltäglichen Problemen, auf das Wesentliche konzentrieren wollte – daran hat mich Ihr Film erinnert.

Frauke Finsterwalder: In meinem Film sieht man natürlich unterschiedliche realistische Milieus. Auch das aneinander vorbei reden in den Dialogen ist sehr realistisch. Die Formulierung „kein Realismus“ bezieht sich eher auf die Bildsprache und die Hintergrundsituationen, wie etwa autofreie Straßen. Was beim Drehen unendlich schwer herzustellen war, da die Auto-Lobby in Deutschland sehr stark ist und man einfach nur sehr schwierig Straßen gesperrt bekommt. Oder menschenleere Orte: eine Tankstelle, ohne andere Kunden, oder die KZ-Gedenkstätte, ohne andere Besucher. „Finsterworld“ sollte einen Ort darstellen, an dem in verdichteter Form sehr viel möglich ist.

Deutschland hat, was besonders auffällt, wenn man von außerhalb darauf sieht, sehr unterschiedliche Facetten. Der katholische Süden, der protestantische Norden, Ost, West und vieles mehr – diese Unterschiede sollten im Film nicht zu sehen sein, sondern die Gemeinsamkeiten erfasst werden, ohne sie einer Region zuzuordnen. Auch die Darsteller wurden entsprechend ausgewählt, unter denen sich mit Jakub Gierszal (als Maximilian Sandberg) ein polnischer Schauspieler, mit Carla Juri eine Italo-Schweizerin (als Natalie) und Johannes Krisch (als Einsiedler) ein Ur-Österreicher befinden – das war eine bewusst hergestellte Mischung.

Udo Rotenberg: Es ging entsprechend um eine Zuspitzung der Realität? – Anders ausgedrückt, beschäftigt sich der Film genau mit den Problemfeldern, die dem deutschen Film gerne nachgesagt werden – klassische Stereotypen wie das saturierte, reiche Ehepaar Sandberg (gespielt von Corinna Harfouch und Bernhard Schütz), dass sich nur mit sich selbst beschäftigt, und sowohl die Beziehung zu ihrem Sohn Maximilian, als auch zu der im Altersheim lebenden Mutter des Mannes (Margit Carstensen) vernachlässigt, oder der Lehrer (Christoph Bach), der versucht in dem ehemaligen KZ seinen Schülern die deutsche Geschichte näher zu bringen, worauf diese nur gelangweilt reagieren – ohne den Gestus eines sozialkritischen Films anzunehmen, sondern sehr unterhaltend zu bleiben. War das so von Ihnen beabsichtigt?

Frauke Finsterwalder: „Finsterworld“ ist der Versuch, einen Film über Deutschland zu drehen, der Spaß macht, gleichzeitig aber auch irrsinnig schrecklich ist. Ich bin froh, dass es aufgegangen ist. In Deutschland lachen die Zuschauer erstaunlich viel über den Film, besonders über die Bemerkung, dass die Fahne so hässlich ist. Das denken offensichtlich Viele, ohne es zu sagen. Im Ausland empfand man dagegen die Tragik stärker, in Argentinien wurde sogar geweint.

Udo Rotenberg: Sie riskieren es, am Ende nicht alles wieder gerade zu rücken, etwa in der Episode um den Lehrer. Quasi ein Verstoß gegen die Regeln…

Frauke Finsterwalder: Der in verschiedenen Ländern unterschiedlich wahrgenommen wird. In Kanada reagierte man geradezu fassungslos darüber, dass das Böse gewinnen darf, gleichzeitig empfand man es auch als gut, weil es für gegen die amerikanischen Sehgewohnheiten ist. Argentinien ist dagegen noch stark von der nicht lange zurückliegenden Zeit der Diktatur geprägt. Viele Täter wurden nie zur Rechenschaft gezogen. Die Argentinier fanden den Film deshalb sehr echt.

Udo Rotenberg: Gab es während der Filmentwicklung Episoden, die wieder herausgenommen wurden oder später dazu kamen? – „Finsterworld“ deckt ja viele Bereiche ab.

Frauke Finsterwalder: Der Film war von Beginn an so konzipiert. Hinzugefügt wurde nichts. Nur eine schon abgedrehte Episode wurde wieder heraus geschnitten, die aber keine entscheidende Funktion hatte.

Frage: Wollten Sie mit Ihrem Film auch direkt Kritik üben?

Frauke Finsterwalder: „Finsterworld“ beschäftigt sich natürlich auch mit dem neuen Selbstbild, das sich in Deutschland immer mehr verbreitet – das es hier gerecht zugeht und Deutschland die „bessere“ Demokratie hat. Vom Ausland aus betrachtet, stellt sich diese Meinung ganz anders dar. Gleichzeitig mache ich mich auch lustig darüber, dass ich selbst so deutsch bin und mich wieder so intensiv damit auseinandersetze, weshalb es eine Befreiung war, den Film „Finsterworld“ zu nennen (ein Titel, der ganz früh feststand). Es entstand eine eigene Welt, in die ich alles, was aus meiner Sicht hinein gehört, hinein stecken konnte.

Udo Rotenberg:  Diesen Zwiespalt im Deutschlandbild empfindet man besonders am Ende des Films, das auch positive Aspekte vermittelt – etwa wenn die alte Frau vor dem Haus des Fußpflegers steht. Der Moment, in dem das Ehepaar die Mutter im Altersheim nicht mehr antrifft, ist es offen, ob sie noch lebt – sollte diese Spannung bewusst entstehen?

Frauke Finsterwalder:  Die Figur des Fußpflegers Claude (Michael Maertens) sollte den Betrachter auch mit der Frage konfrontieren, was normal ist und was nicht. Man kann sein Verhalten natürlich ekelig finden, gleichzeitig ist er der sozialste Mensch im Film.

Udo Rotenberg: Dem gegenüber entsteht die Liebe Natalies (Carla Juri) zu Maximilan (Jakub Gierszal) unter verlogenen Voraussetzungen…

Frauke Finsterwalder: Natalie wird von Maximilian gebrochen - für mich nach wie vor der Moment des Films, den ich kaum ertragen kann.

Udo Rotenberg: Zum Abschluss hätte ich gerne noch von Ihnen gewusst, was sie nach dieser intensiven Beschäftigung mit Deutschland als nächstes planen.

Frauke Finsterwalder: Auf jeden Fall wieder ein Spielfilm, aber kein Episodenfilm und nicht über Deutschland. Sehr gerne wieder mit denselben Darstellern – ich fände es zudem interessant, einzelne Figuren weiter zu betrachten. Aber am liebsten würde ich einen richtigen Science-Fiction-Film drehen.

Interview mit Frauke Finsterwalder in Berlin am 17.09.2013, anlässlich ihres Films „Finsterworld“ (Kinostart 17.10.2013)                                              Fragen und Aufzeichnung Udo Rotenberg, Dresden

Mittwoch, 2. Oktober 2013

Die andere Heimat (2013) Edgar Reitz

Inhalt: Hunsrück 1842 - zunehmend sind die Bewohner der ländlichen Region nicht mehr bereit, die tägliche Mühsal und die Repressalien ihrer Herrscher zu ertragen, weshalb sie zu Hunderttausenden aus der preußischen Rheinprovinz auswandern. Als das gelobte Land gilt für sie Brasilien, von dem auch Jakob Simon (Jan Dieter Schneider) träumt, der jedes Buch, das er darüber finden kann, liest und daraus die Sprache der Indios lernt. Sein Vater Johann (Rüdiger Kriese), Dorfschmied und Bauer, hält nichts von den Flausen seines Sohnes, die ihn aus seiner Sicht nur von der Arbeit abhalten, die für den kärglichen Broterwerb notwendig ist.

Als sein älterer Bruder Gustav (Maximilian Scheidt) vom Wehrdienst zurückkehrt, wird Jakob noch mehr damit konfrontiert, dass ihm der Sinn für das Praktische fehlt - nur seine Mutter Margarethe (Marita Breuer) verteidigt ihren Sohn. Und Jettchen (Antonia Bill), dass hübscheste Mädchen aus dem Nachbarort, ist fasziniert von Jakobs Wissen und der Begeisterung, mit der er über Brasilien erzählt. Doch bei einer Tanzveranstaltung muss der schüchterne Jakob mit ansehen, wie sein schneidigerer Bruder sich an Jettchen heranmacht, weshalb er aus Frust in die aufwieglerischen Rufe gegen den Baron einstimmt und im Gefängnis landet...


Ein knapp vierstündiger Film über eine Familie, die im Jahr 1842 ihr Dasein in einem kleinen Ort im Hunsrück fristet - das klingt nach einem zähen und wenig unterhaltsamen Kinoabend. Auch die Figur des Protagonisten - ein junger, literarisch Interessierter Mann inmitten einer bäuerlichen, nur an der Bewältigung der täglichen Arbeit interessierten Umgebung - aus dessen Blickwinkel heraus die Geschichte erzählt wird, ist kein unbedingt origineller Ansatz. Dessen Schicksal lässt sich leicht vorhersagen - vom strengen, durch den ständigen Überlebenskampf verbitterten Vater (Rüdiger Kriese) drangsaliert und vom älteren, tüchtigeren Bruder (Maximilian Scheidt) in den Schatten gestellt, der ihm auch Jettchen (Antonia Bill), das hübscheste Mädchen der Umgebung, wegnimmt, sucht er Ablenkung in seinen Büchern und träumt von fernen Gestaden. Einzig die von der täglichen Mühsal zunehmend gezeichnete Mutter (Marita Breuer) hat Verständnis für ihren gebildeten und sensiblen Jüngsten.

Die äußeren Umstände, unter denen die Dreharbeiten stattfanden, scheinen dieses Bild einer am neorealistischen Stil orientierten Dokumentation eines armseligen Lebens noch zu verdichten, das in keinem größeren Gegensatz zur aufgeregten, bunten und ständig nach Abwechslung schreienden Gegenwart stehen könnte. Neben einer bis ins Detail nachempfundenen Authentizität - die Darsteller sprechen im nicht immer leicht verständlichen Dialekt der Region - entschieden sich Regisseur Edgar Reitz und sein Kameramann Gernot Roll, den Film in Schwarz-Weiß zu drehen, nutzten die Digitaltechnik aber für selten eingestreute farbig gezeigte Details - nicht als Gimmick, sondern in einer die Realität noch unterstützenden Wirkung. Die Entscheidung gegen farbige Bilder war konsequent, denn sie hätten der dünn besiedelten Landschaft automatisch einen pittoresken Anschein verliehen, der nicht zu der Lebenssituation der Menschen gepasst hätte, die zunehmend jedes Vertrauen in ihre Zukunft verloren haben, weshalb Hunderttausende von ihnen beschließen ihre Heimat zu verlassen, um nach Brasilien auszuwandern.

Brasilien - damit fällt schon früh im Film das entscheidende Stichwort, dass dem Film eine andere Richtung gibt, als die äußeren Parameter erwarten lassen. Brasilien steht hier nicht nur für eine weit entfernt scheinende Sehnsucht - Jakob Simon (Jan Dieter Schneider) liest alles, was er über das Land erfahren kann und lernt aus den Büchern die Sprache der Indios - sondern wird für viele Menschen zu einer realen Alternative, obwohl es nur wenige, zudem idealisierte Informationen über die Lebenssituation dort gibt. Doch das spielt letztlich keine Rolle, angesichts einer Heimat, die ihre Bewohner im Stich lässt. Es wird deutlich, warum Reitz die Zeit benötigt, den Betrachter vollends in eine deutsche Realität eintauchen zu lassen, die erst 170 Jahre zurückliegt und deren Auswirkungen heute fast vollständig in Vergessenheit geraten sind.

Dank des überzeugenden Spiels der Darsteller, dem zeitgemäßen Tempo und dem detailliert gezeigten, überschaubaren Umfeld entfaltet sich ein Leben vor dem Betrachter, dass sich den typischen Klischees entzieht, denn keine romantischen Verwicklungen oder überbordenden Ideen bestimmen das Geschehen, sondern die Jahreszeiten, die tägliche Arbeit und der allgegenwärtige Tod - voraussehbar und planbar war kaum etwas. Reitz gelingt es ein Gleichgewicht zwischen der Liebe zur Heimat, den Momenten des Glücks in der Gemeinschaft und der täglichen Mühsal darzustellen, dass zunehmend von willkürlichen Gesetzgebungen, langen Wintern und mangelnder Arbeit aus dem Gleichgewicht gebracht wird, weshalb sich stark verwurzelte Menschen dazu entschieden, ihre Heimat zu verlassen - Mitte des vorletzten Jahrhunderts war Deutschland (hier am Beispiel der preußischen Rheinprovinz) ein Auswanderungsland.

Die Länge der Laufzeit ist notwendig - der Betrachter sollte den Film möglichst ohne Unterbrechung sehen - um das damalige Lebensgefühl nachempfinden zu können und einen Begriff von "Heimat" jenseits reaktionärer Schönfärberei zu bekommen, die zu verlassen einen schweren Verlust für Jeden bedeutete - für die Emigranten, wie für die Zurückgebliebenen – eine Entscheidung, die als Folge lang anhaltender Hoffnungslosigkeit, gepaart mit einer illusionären Erwartungshaltung an ein gelobtes Land, getroffen wurde. Edgar Reitz verfolgte mit seinem Film zwei Ziele - einerseits wollte er eine nicht lang zurückliegende Vergangenheit wieder in Erinnerung rufen, andererseits damit auch ein Verstehen für die Situation der heutigen Emigranten nach Deutschland erzeugen. Diese unterschwellige Intention spielt sicherlich ein Rolle, aber die entscheidende Wirkung des Films liegt darin, dass ihm das gelingt, wofür Kino steht – das Eintauchen in eine Welt, die nur im ersten Moment fremdartig wirkt.

"Die andere Heimat" Deutschland 2013Regie: Edgar Reitz, Drehbuch: Edgar Reitz, Gerd Heidenreich, Darsteller : Jan Dieter Schneider, Antonia Bill, Maximilian Scheidt, Marita Breuer, Rüdiger KrieseLaufzeit : 230 Minuten 

Donnerstag, 26. September 2013

The Broken Circle Breakdown (The Broken Circle) 2012 Felix Van Groeningen

Inhalt: Didier (Johan Heldenbergh) spielt Banjo in einer Blue-Grass Band und lebt in einem Wohnwagen auf dem Gelände eines alten Bauernhofes, der ihm gehört und den er sanieren will. Als er Elise (Veerle Baetens) begegnet, die in einem Tattoo-Studio arbeitet und selbst viele Tattoos am Körper hat, ist es Liebe auf den ersten Blick. Sie teilt bald seine Vorliebe für die Musik und beginnt gemeinsam mit ihm auf der Bühne zu singen. Sie sind sehr glücklich, aber als sie plötzlich schwanger wird, reagiert er einen Moment lang verstört, überfordert davon, sich für ein Leben entscheiden zu müssen.

Um kurz danach wieder mit Baumaterial zurückzukehren, um das Haus zu sanieren, denn dem Baby will er kein Leben in einem Wohnwagen zumuten. Als Maybelle geboren wird, ist der Kreis des Glücks geschlossen, beginnt ein Leben zwischen Musik, dem Bauernhof, Freunden und Familie, aber dann erkrankt die kleine Tochter mit 6 Jahren an Krebs...


Elise (Veerle Bertens) und Didier (Johan Heldenbergh) sind ein unkonventionelles Paar und doch wie viele andere auch. Die junge stark tätowierte Frau und der bärtige Musiker, der Banjo in einer traditionellen "Blue-Grass" - Band spielt, haben sich sofort ineinander verliebt und sind in seinem Wohnwagen zusammengezogen, der auf dem Gelände eines alten Bauernhofes steht, den er erworben hatte und sanieren möchte. Sie teilt bald seine Begeisterung für die ursprüngliche amerikanische Musik und tritt als Sängerin gemeinsam mit ihm und seinen Freunden auf. Und dann wird sie schwanger. Einen Moment reagiert Didier geschockt, nicht bereit für diese Verantwortung, doch dann nimmt er seine Vaterschaft mit Überzeugung an. Als Mirabelle geboren wird, schließt sich der Kreis und das Glück ist vollkommen.

Nur langsam setzt Regisseur und Autor Felix Van Groeningen diese Situation ohne zeitliche Ordnung in Rückblenden zusammen, und lässt sie damit langsam erfahrbar werden. Der Beginn des Films wird dagegen von anderen, ernüchternden Bildern bestimmt - von einem kleinen Mädchen ohne Haare, das an vielen Drähten in einem Krankenhaus hängt, Ärzten in weißen Kitteln und verzweifelten Eltern. Die verschachtelte Erzählform, die Van Groeningen für seinen Film wählte und die er bis zum Ende beibehält, unterliegt keinen Spannung fördernden Intentionen und soll auch keine Coolness erzeugen, sondern ist zwingend notwendig. Einerseits gelingt ihm dadurch eine Verzahnung von Gegenwart und Vergangenheit, die erst die emotionale Abhängigkeit deutlich werden lassen, andererseits erleichtert er es damit dem Betrachter, das Geschehen zu verarbeiten. Indem er das Ergebnis annähernd vorweg nimmt und erst danach die Entwicklung dahin beschreibt, nimmt er den Konsequenzen ein wenig die Tragik, so dass auch Raum für Glücksgefühle bleibt.

Einen entscheidenden Anteil daran hat die Musik. Die Auftritte der Band, das spontane Spiel im Freundeskreis oder das gemeinsame Singen von Elise und Didier vermitteln nicht einfach nur Lebensfreude, sondern sind essentieller Bestandteil ihres Daseins. Dabei spielt es keine Rolle, ob diese Stilrichtung vom Betrachter gemocht wird. Ihr Rhythmus und ihr unverfälschter Ausdruck übertragen sich auf Jeden, abgesehen davon, dass sie eine politische Dimension transportiert, die der Film ebenso unangestrengt und selbstverständlich integriert wie den Tod und die Liebe.

Van Groeningen erzählt seinen Film wenige Jahre zurück versetzt, so dass der frühere US-Präsident George Bush mehrfach im Fernsehen zu sehen ist. Einmal kurz nach dem Anschlag auf das World-Trade-Center, dann in einer Rede zur Stammzellenforschung, die er wegen der Arbeit mit Embryonen einschränkt. Didiers Vorliebe für Amerika drückt sich nicht nur in seiner Musik aus, er glaubt auch an das freie, weite Land, in dem Jeder neu anfangen kann. Die Aussagen George Bushs erzeugen in ihm aber nur Abscheu und Wut, die er bei einem Konzert verzweifelt heraus lässt, einem Höhepunkt des Films. Seine Abrechnung mit Religion, Glauben und bigotten Verhaltensweisen sind nicht einfach Ausdruck seines Atheismus, kein intellektuelles Gedankenspiel, sondern vom Wunsch geprägt, die Gesetze des Lebens und damit die Realität anzuerkennen.

Dem gegenüber steht die Gedankenwelt seiner Frau. Elise zieht sich nach dem Tod ihrer Tochter zunehmend zurück, verharrt stundenlang vor einer Art Altar, wo sie Erinnerungsstücke versammelt hat. Als sie das Glasdach der Veranda mit den Bildern von Falken beklebt, damit keine Vögel mehr dagegen fliegen, kommt es zum offenen Disput zwischen ihnen. Er wirft ihr vor zu glauben, Mirabelle könnte als Vogel zurückkehren, nicht begreifend, dass sie in diesem Gedanken ein wenig Trost findet. "The broken circle breakdown" kann und will keine Lösungen vorgeben, aber er ist kompromisslos in seiner Darstellung der menschlichen Existenz, bleibt nicht im Ungefähren oder Diffusen, sondern konfrontiert den Betrachter mit den Extremen - und fordert eine klare Haltung ein.

Einmal sagt Elise, dass sie wusste, dass es so kommen würde. Dass das Leben zu schön gewesen wäre, um immer so zu bleiben. Dass man sich nicht verlieben, nicht binden darf, um nicht enttäuscht zu werden. Die äußeren Umstände scheinen ihr recht zu geben, denn der Film schildert  - wie im Titel plastisch beschrieben - den Zusammenbruch eines gebrochenen Kreises, die völlige Zerstörung einer idealen Form, aber "The broken circle breakdown" vermittelt genau das Gegenteil - den Wert des Lebens zu begreifen und in vollen Zügen anzunehmen.







"The broken circle breakdown" Belgien 2012Regie: Felix Van Groeningen, Drehbuch: Felix Van Groeningen, Carl Joos, Johan Heldenbergh (Theaterstück), Darsteller : Veerle Baetens, Johan Heldenbergh, Nell Catrysse, Geert Van Rampelberg, Nils De CasterLaufzeit : 110 Minuten