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Mittwoch, 2. Oktober 2013

Die andere Heimat (2013) Edgar Reitz

Inhalt: Hunsrück 1842 - zunehmend sind die Bewohner der ländlichen Region nicht mehr bereit, die tägliche Mühsal und die Repressalien ihrer Herrscher zu ertragen, weshalb sie zu Hunderttausenden aus der preußischen Rheinprovinz auswandern. Als das gelobte Land gilt für sie Brasilien, von dem auch Jakob Simon (Jan Dieter Schneider) träumt, der jedes Buch, das er darüber finden kann, liest und daraus die Sprache der Indios lernt. Sein Vater Johann (Rüdiger Kriese), Dorfschmied und Bauer, hält nichts von den Flausen seines Sohnes, die ihn aus seiner Sicht nur von der Arbeit abhalten, die für den kärglichen Broterwerb notwendig ist.

Als sein älterer Bruder Gustav (Maximilian Scheidt) vom Wehrdienst zurückkehrt, wird Jakob noch mehr damit konfrontiert, dass ihm der Sinn für das Praktische fehlt - nur seine Mutter Margarethe (Marita Breuer) verteidigt ihren Sohn. Und Jettchen (Antonia Bill), dass hübscheste Mädchen aus dem Nachbarort, ist fasziniert von Jakobs Wissen und der Begeisterung, mit der er über Brasilien erzählt. Doch bei einer Tanzveranstaltung muss der schüchterne Jakob mit ansehen, wie sein schneidigerer Bruder sich an Jettchen heranmacht, weshalb er aus Frust in die aufwieglerischen Rufe gegen den Baron einstimmt und im Gefängnis landet...


Ein knapp vierstündiger Film über eine Familie, die im Jahr 1842 ihr Dasein in einem kleinen Ort im Hunsrück fristet - das klingt nach einem zähen und wenig unterhaltsamen Kinoabend. Auch die Figur des Protagonisten - ein junger, literarisch Interessierter Mann inmitten einer bäuerlichen, nur an der Bewältigung der täglichen Arbeit interessierten Umgebung - aus dessen Blickwinkel heraus die Geschichte erzählt wird, ist kein unbedingt origineller Ansatz. Dessen Schicksal lässt sich leicht vorhersagen - vom strengen, durch den ständigen Überlebenskampf verbitterten Vater (Rüdiger Kriese) drangsaliert und vom älteren, tüchtigeren Bruder (Maximilian Scheidt) in den Schatten gestellt, der ihm auch Jettchen (Antonia Bill), das hübscheste Mädchen der Umgebung, wegnimmt, sucht er Ablenkung in seinen Büchern und träumt von fernen Gestaden. Einzig die von der täglichen Mühsal zunehmend gezeichnete Mutter (Marita Breuer) hat Verständnis für ihren gebildeten und sensiblen Jüngsten.

Die äußeren Umstände, unter denen die Dreharbeiten stattfanden, scheinen dieses Bild einer am neorealistischen Stil orientierten Dokumentation eines armseligen Lebens noch zu verdichten, das in keinem größeren Gegensatz zur aufgeregten, bunten und ständig nach Abwechslung schreienden Gegenwart stehen könnte. Neben einer bis ins Detail nachempfundenen Authentizität - die Darsteller sprechen im nicht immer leicht verständlichen Dialekt der Region - entschieden sich Regisseur Edgar Reitz und sein Kameramann Gernot Roll, den Film in Schwarz-Weiß zu drehen, nutzten die Digitaltechnik aber für selten eingestreute farbig gezeigte Details - nicht als Gimmick, sondern in einer die Realität noch unterstützenden Wirkung. Die Entscheidung gegen farbige Bilder war konsequent, denn sie hätten der dünn besiedelten Landschaft automatisch einen pittoresken Anschein verliehen, der nicht zu der Lebenssituation der Menschen gepasst hätte, die zunehmend jedes Vertrauen in ihre Zukunft verloren haben, weshalb Hunderttausende von ihnen beschließen ihre Heimat zu verlassen, um nach Brasilien auszuwandern.

Brasilien - damit fällt schon früh im Film das entscheidende Stichwort, dass dem Film eine andere Richtung gibt, als die äußeren Parameter erwarten lassen. Brasilien steht hier nicht nur für eine weit entfernt scheinende Sehnsucht - Jakob Simon (Jan Dieter Schneider) liest alles, was er über das Land erfahren kann und lernt aus den Büchern die Sprache der Indios - sondern wird für viele Menschen zu einer realen Alternative, obwohl es nur wenige, zudem idealisierte Informationen über die Lebenssituation dort gibt. Doch das spielt letztlich keine Rolle, angesichts einer Heimat, die ihre Bewohner im Stich lässt. Es wird deutlich, warum Reitz die Zeit benötigt, den Betrachter vollends in eine deutsche Realität eintauchen zu lassen, die erst 170 Jahre zurückliegt und deren Auswirkungen heute fast vollständig in Vergessenheit geraten sind.

Dank des überzeugenden Spiels der Darsteller, dem zeitgemäßen Tempo und dem detailliert gezeigten, überschaubaren Umfeld entfaltet sich ein Leben vor dem Betrachter, dass sich den typischen Klischees entzieht, denn keine romantischen Verwicklungen oder überbordenden Ideen bestimmen das Geschehen, sondern die Jahreszeiten, die tägliche Arbeit und der allgegenwärtige Tod - voraussehbar und planbar war kaum etwas. Reitz gelingt es ein Gleichgewicht zwischen der Liebe zur Heimat, den Momenten des Glücks in der Gemeinschaft und der täglichen Mühsal darzustellen, dass zunehmend von willkürlichen Gesetzgebungen, langen Wintern und mangelnder Arbeit aus dem Gleichgewicht gebracht wird, weshalb sich stark verwurzelte Menschen dazu entschieden, ihre Heimat zu verlassen - Mitte des vorletzten Jahrhunderts war Deutschland (hier am Beispiel der preußischen Rheinprovinz) ein Auswanderungsland.

Die Länge der Laufzeit ist notwendig - der Betrachter sollte den Film möglichst ohne Unterbrechung sehen - um das damalige Lebensgefühl nachempfinden zu können und einen Begriff von "Heimat" jenseits reaktionärer Schönfärberei zu bekommen, die zu verlassen einen schweren Verlust für Jeden bedeutete - für die Emigranten, wie für die Zurückgebliebenen – eine Entscheidung, die als Folge lang anhaltender Hoffnungslosigkeit, gepaart mit einer illusionären Erwartungshaltung an ein gelobtes Land, getroffen wurde. Edgar Reitz verfolgte mit seinem Film zwei Ziele - einerseits wollte er eine nicht lang zurückliegende Vergangenheit wieder in Erinnerung rufen, andererseits damit auch ein Verstehen für die Situation der heutigen Emigranten nach Deutschland erzeugen. Diese unterschwellige Intention spielt sicherlich ein Rolle, aber die entscheidende Wirkung des Films liegt darin, dass ihm das gelingt, wofür Kino steht – das Eintauchen in eine Welt, die nur im ersten Moment fremdartig wirkt.

"Die andere Heimat" Deutschland 2013Regie: Edgar Reitz, Drehbuch: Edgar Reitz, Gerd Heidenreich, Darsteller : Jan Dieter Schneider, Antonia Bill, Maximilian Scheidt, Marita Breuer, Rüdiger KrieseLaufzeit : 230 Minuten 

Donnerstag, 26. September 2013

The Broken Circle Breakdown (The Broken Circle) 2012 Felix Van Groeningen

Inhalt: Didier (Johan Heldenbergh) spielt Banjo in einer Blue-Grass Band und lebt in einem Wohnwagen auf dem Gelände eines alten Bauernhofes, der ihm gehört und den er sanieren will. Als er Elise (Veerle Baetens) begegnet, die in einem Tattoo-Studio arbeitet und selbst viele Tattoos am Körper hat, ist es Liebe auf den ersten Blick. Sie teilt bald seine Vorliebe für die Musik und beginnt gemeinsam mit ihm auf der Bühne zu singen. Sie sind sehr glücklich, aber als sie plötzlich schwanger wird, reagiert er einen Moment lang verstört, überfordert davon, sich für ein Leben entscheiden zu müssen.

Um kurz danach wieder mit Baumaterial zurückzukehren, um das Haus zu sanieren, denn dem Baby will er kein Leben in einem Wohnwagen zumuten. Als Maybelle geboren wird, ist der Kreis des Glücks geschlossen, beginnt ein Leben zwischen Musik, dem Bauernhof, Freunden und Familie, aber dann erkrankt die kleine Tochter mit 6 Jahren an Krebs...


Elise (Veerle Bertens) und Didier (Johan Heldenbergh) sind ein unkonventionelles Paar und doch wie viele andere auch. Die junge stark tätowierte Frau und der bärtige Musiker, der Banjo in einer traditionellen "Blue-Grass" - Band spielt, haben sich sofort ineinander verliebt und sind in seinem Wohnwagen zusammengezogen, der auf dem Gelände eines alten Bauernhofes steht, den er erworben hatte und sanieren möchte. Sie teilt bald seine Begeisterung für die ursprüngliche amerikanische Musik und tritt als Sängerin gemeinsam mit ihm und seinen Freunden auf. Und dann wird sie schwanger. Einen Moment reagiert Didier geschockt, nicht bereit für diese Verantwortung, doch dann nimmt er seine Vaterschaft mit Überzeugung an. Als Mirabelle geboren wird, schließt sich der Kreis und das Glück ist vollkommen.

Nur langsam setzt Regisseur und Autor Felix Van Groeningen diese Situation ohne zeitliche Ordnung in Rückblenden zusammen, und lässt sie damit langsam erfahrbar werden. Der Beginn des Films wird dagegen von anderen, ernüchternden Bildern bestimmt - von einem kleinen Mädchen ohne Haare, das an vielen Drähten in einem Krankenhaus hängt, Ärzten in weißen Kitteln und verzweifelten Eltern. Die verschachtelte Erzählform, die Van Groeningen für seinen Film wählte und die er bis zum Ende beibehält, unterliegt keinen Spannung fördernden Intentionen und soll auch keine Coolness erzeugen, sondern ist zwingend notwendig. Einerseits gelingt ihm dadurch eine Verzahnung von Gegenwart und Vergangenheit, die erst die emotionale Abhängigkeit deutlich werden lassen, andererseits erleichtert er es damit dem Betrachter, das Geschehen zu verarbeiten. Indem er das Ergebnis annähernd vorweg nimmt und erst danach die Entwicklung dahin beschreibt, nimmt er den Konsequenzen ein wenig die Tragik, so dass auch Raum für Glücksgefühle bleibt.

Einen entscheidenden Anteil daran hat die Musik. Die Auftritte der Band, das spontane Spiel im Freundeskreis oder das gemeinsame Singen von Elise und Didier vermitteln nicht einfach nur Lebensfreude, sondern sind essentieller Bestandteil ihres Daseins. Dabei spielt es keine Rolle, ob diese Stilrichtung vom Betrachter gemocht wird. Ihr Rhythmus und ihr unverfälschter Ausdruck übertragen sich auf Jeden, abgesehen davon, dass sie eine politische Dimension transportiert, die der Film ebenso unangestrengt und selbstverständlich integriert wie den Tod und die Liebe.

Van Groeningen erzählt seinen Film wenige Jahre zurück versetzt, so dass der frühere US-Präsident George Bush mehrfach im Fernsehen zu sehen ist. Einmal kurz nach dem Anschlag auf das World-Trade-Center, dann in einer Rede zur Stammzellenforschung, die er wegen der Arbeit mit Embryonen einschränkt. Didiers Vorliebe für Amerika drückt sich nicht nur in seiner Musik aus, er glaubt auch an das freie, weite Land, in dem Jeder neu anfangen kann. Die Aussagen George Bushs erzeugen in ihm aber nur Abscheu und Wut, die er bei einem Konzert verzweifelt heraus lässt, einem Höhepunkt des Films. Seine Abrechnung mit Religion, Glauben und bigotten Verhaltensweisen sind nicht einfach Ausdruck seines Atheismus, kein intellektuelles Gedankenspiel, sondern vom Wunsch geprägt, die Gesetze des Lebens und damit die Realität anzuerkennen.

Dem gegenüber steht die Gedankenwelt seiner Frau. Elise zieht sich nach dem Tod ihrer Tochter zunehmend zurück, verharrt stundenlang vor einer Art Altar, wo sie Erinnerungsstücke versammelt hat. Als sie das Glasdach der Veranda mit den Bildern von Falken beklebt, damit keine Vögel mehr dagegen fliegen, kommt es zum offenen Disput zwischen ihnen. Er wirft ihr vor zu glauben, Mirabelle könnte als Vogel zurückkehren, nicht begreifend, dass sie in diesem Gedanken ein wenig Trost findet. "The broken circle breakdown" kann und will keine Lösungen vorgeben, aber er ist kompromisslos in seiner Darstellung der menschlichen Existenz, bleibt nicht im Ungefähren oder Diffusen, sondern konfrontiert den Betrachter mit den Extremen - und fordert eine klare Haltung ein.

Einmal sagt Elise, dass sie wusste, dass es so kommen würde. Dass das Leben zu schön gewesen wäre, um immer so zu bleiben. Dass man sich nicht verlieben, nicht binden darf, um nicht enttäuscht zu werden. Die äußeren Umstände scheinen ihr recht zu geben, denn der Film schildert  - wie im Titel plastisch beschrieben - den Zusammenbruch eines gebrochenen Kreises, die völlige Zerstörung einer idealen Form, aber "The broken circle breakdown" vermittelt genau das Gegenteil - den Wert des Lebens zu begreifen und in vollen Zügen anzunehmen.







"The broken circle breakdown" Belgien 2012Regie: Felix Van Groeningen, Drehbuch: Felix Van Groeningen, Carl Joos, Johan Heldenbergh (Theaterstück), Darsteller : Veerle Baetens, Johan Heldenbergh, Nell Catrysse, Geert Van Rampelberg, Nils De CasterLaufzeit : 110 Minuten